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  • AutorenbildAndrea Schmidheiny Konic

Anonymisierung, Pseudonymisierung und die Frisur von schwarzen Löchern


EHT Collaboration, https://www.eso.org/public/images/eso1907a/


Anonymisierung versus Pseudonymisierung


Im allgemeinen Sprachgebrauch wird in aller Regel der Begriff Anonymisierung verwendet. Selten hört man davon, Unterlagen seien pseudonymisiert worden. Dieser Beitrag versucht Licht in die Verwendung der Begriffe im Kontext der Anonymisierung von Gerichtsentscheiden zu bringen, allerdings ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Wissenschaftlichkeit zu erheben.


Für eine sorgfältige Auseinandersetzung mit beiden Begriffen in einem datenschutzrechtlichen Kontext lohnt sich die Lektüre von Daniel Kettiger, Anonymisierung: Rechtliche Aspekte, in: Daniel Hürlimann/Daniel Kettiger (Hrsg.), Anonymisierung von Urteilen, Helbing und Lichtenhahn, Basel 2021, S. 21-30. Daniel Kettiger zieht für die Definition und Abgrenzung der beiden Begriffe die europäische DSGVO hinzu, welche eine Definition der Pseudonymisierung enthält. In Rz. 14 fasst er zusammen:

„Im Gegensatz zur Anonymisierung stellt mithin die Pseudonymisierung einen reversiblen Akt dar; mit der vom Pseudonym getrennten Information ist eine Re-Identifizierung möglich.“

Die Anonymisierung dagegen ist im Umkehrschluss nicht reversibel. In Kapitel 5 (Rz. 28 f.) schliesst Kettiger mit einer These, wonach rein datenschutzrechtlich betrachtet eine Anonymisierung von Entscheiden und Urteilen nur eine Pseudonymisierung sei, solange eine Verfahrensnummer auf dem Dokument ersichtlich bleibe.


Fragt man ChatGPT nach dem Unterschied der beiden Begriffe, erhält man folgende Antwort:

„Anonymisierung bezieht sich auf den Prozess, bei dem personenbezogene Daten so verändert werden, dass die Identität der betroffenen Person nicht mehr festgestellt werden kann. Pseudonymisierung bezieht sich hingegen auf den Prozess, bei dem personenbezogene Daten ersetzt werden durch Pseudonyme, so dass die Identität der betroffenen Person nur noch mit Hilfe von zusätzlichen Informationen festgestellt werden kann. Anonymisierung bietet einen höheren Schutz der Privatsphäre, da die Identität der betroffenen Person nicht mehr festgestellt werden kann, während Pseudonymisierung einen geringeren Schutz bietet, da die Identität der betroffenen Person unter Umständen nach wie vor festgestellt werden kann.“

Tatsache ist, dass trotz Fehlen einer konkreten Legaldefinition der Begriff der Anonymisierung in diversen Normen auf Bundes- und Kantonsebene verwendet wird (z.B. §5 Abs. 2, §6 sowie §22 Abs. 2 lit. b Informations- und Akteneinsichtsverordnung der obersten kantonalen Gerichte des Kantons Zürich (IAV), LS 211.15). Weiter existieren auf Bundes- und Kantonsebene Richtlinien, Reglemente und Arbeitsanweisungen, wie anonymisiert werden müsse (z.B. Regeln für die Anonymisierung der Urteile am Bundesgericht).


Kettiger unterscheidet in seinem Beitrag und seiner These nicht zwischen Zugriffsberechtigten und nicht Zugriffsberechtigten, sondern geht im datenschutzrechtlichen Kontext von einem objektiven Verständnis der Anonymisierung aus: Eine Re-Identifikation ist entweder möglich oder nicht.


Aus subjektiver Perspektive liesse sich dagegen sagen, dass unbeteiligte Dritte und nicht Zugriffsberechtigte in Bezug auf die Geschäftsverwaltung ein anonymisiertes Urteil vor sich haben. Für sie ist es nicht möglich, eine Re-Identifikation anhand der Verfahrensnummer vorzunehmen. Für Zugriffsberechtigte handelt es sich dagegen um ein pseudonymisiertes Urteil, vorausgesetzt, die Person hat nicht nur Zugriff auf die Geschäftsverwaltung, sondern auch auf das erwähnte Geschäft oder Zugang zum physischen Archiv der Spruchbücher. Dies wiederum ist abhängig vom Informationssicherheitskonzept sowie dessen konkreter Umsetzung der jeweiligen Organisation.


Ausgehend von diesem subjektiven Begriffsverständnis würde dies bedeuten, dass sich unbeteiligte Dritte die Verfahrensnummer im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung notieren, alles Wahrgenommene in der selbst beigewohnten Verhandlung inkl. mündlicher Urteilseröffnung festhalten und anschliessend warten müssten, bis der vollständig begründete Entscheid vorliegen und in anonymisierter Form im Internet publiziert werden würde. Dies kann je nach Fall und Gericht mehrere Monate in Anspruch nehmen. Eine solche Rekonstruktion von Informationen dürfte für einen unbeteiligten Dritten beispiellos bleiben. Und dennoch: Kettigers These wäre damit bestätigt, denn grundsätzlich möglich bliebe es, wenngleich mit unverhältnismässig grossem Aufwand.


Erfahrungsgemäss wird auch die Entscheidauflage im Rahmen der öffentlichen Urteilsverkündung gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Ziff. 1 IPBPR selten von Dritten wahrgenommen. Die so verkündeten Entscheide werden nicht anonymisiert und – je nach Gericht – in Rubrum und Dispositiv oder im Volltext für eine bestimmte Zeitdauer aufgelegt. Die Entscheide können von interessierten Bürger:innen eingesehen werden.


Auch in den öffentlichen Gerichtsverhandlungen finden sich häufig meist Gerichtsberichterstatter:innen, Angehörige von Prozessparteien oder Schulklassen und keine unbeteiligten Dritten, es sei denn, es handelt sich um sehr öffentlichkeitswirksame Gerichtsprozesse. Dort stellen sich im Rahmen der Anonymisierung schliesslich die anspruchsvollsten Fragen. Handelt es sich um eine Person des öffentlichen Lebens? Rechtfertigt dies eine Publikation in nicht anonymisierter Form im Internet? Wie geht man mit im Urteil zitierten Medienbeiträgen um, welche die Parteien immer noch beim Namen nennen?


Es bleibt dabei, dass sich in der Praxis und insbesondere in Bezug auf Gerichtsentscheide der Begriff der Anonymisierung etabliert hat, dies sowohl in gesetzlichen Grundlagen wie auch im Sprachgebrauch. Der Begriff der Pseudonymisierung findet sich hingegen höchst selten. Solange keine griffigen Legaldefinitionen für beide Begriffe auf höherer Gesetzesstufe eingeführt werden, wird sich dies wohl auch nicht so schnell ändern.



Anonymisierung und schwarze Löcher – bleibt Information für immer verloren?


Unter Bezugnahme auf die oben ausgeführten Definitionen ist festzuhalten, dass unter der Prämisse eines objektiven Anonymisierungsbegriffes ein derart anonymisierter Gerichtsentscheid nicht mehr lesbar wäre, sofern man dies auch auf den Inhalt und nicht nur auf die Prozessnummer anwenden wollte. Die Publikation von Entscheiden dient dem Öffentlichkeitsprinzip. Diesem ist jedoch nur dann Genüge getan, wenn der Entscheid auch noch lesbar und verständlich bleibt. Gemäss Bundesgericht kann dabei nicht ausgeschlossen werden, dass Personen, die mit den Einzelheiten eines Falles vertraut seien, erkennen könnten, um wen es gehe (siehe dazu BGE 133 I 106, E. 8.3.). In der Praxis darf daher von einem subjektivierten Anonymisierungsbegriff und -verständnis ausgegangen werden.


Ad absurdum geführt könnte sonst ein Gerichtsentscheid in der Essenz anonymisiert lauten:

An einem Gericht wurde eine Person zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu … Fr. verurteilt, weil sie einer anderen Person mit einem Gegenstand eine leichte Körperverletzung an einer Körperextremität zugefügt hat.

Alle weiteren Umstände könnten allenfalls zu einer möglichen Re-Identifikation führen: Bezeichnung der Gerichtsbehörde, Geschlecht der Person(en), der für die Körperverletzung verwendete Gegenstand, wo sich die Auseinandersetzung zugetragen hat, die verletzte Körperstelle, die genaue Art der Verletzung, die Tagessatzhöhe, etc.


Mit einer solcher Verstümmelung wäre ein publizierter Entscheid nichts mehr wert. Eine Anonymisierung vergleichbar mit einem schwarzen Loch, welches keine Informationen zurücklässt von dem, was es verschlungen hat. Dabei wären wir bereits bei einem der grössten Probleme der theoretischen Physik der letzten Jahrzehnte angelangt: Dem Informationsparadoxon. Es beschreibt ein Problem, wonach gemäss der Allgemeinen Relativitätstheorie schwarze Löcher in der Lage sind, Informationen zu vernichten, wenn ein Gegenstand hineinfällt und andererseits gemäss den Vorhersagen der Quantenphysik Information nicht einfach verschwinden kann. Ende 2018 gelang einigen der hellsten Köpfe der Welt ein Durchbruch: Information kann bei einem schwarzen Loch als «soft hair» im Ereignishorizont zurückbleiben (Black holes and soft hair: why Stephen Hawking's final work is important | Stephen Hawking | The Guardian).


Was hat dies mit Anonymisierung zu tun? Wie oben erwähnt wäre eine objektive Anonymisierung eines Gerichtsentscheides erst dann komplett, wenn eine Re-Identifizierung nicht möglich ist. Informationen wären damit für immer verloren. Die zentrale Frage bliebe aber: Was gewinnen wir damit? Und diese Frage können wir uns zum Glück ganz selbstbewusst stellen, ohne Quantenphysik verstehen zu müssen.


Etwas Haar muss dranbleiben, um dem Öffentlichkeitsprinzip Genüge zu tun und auch, um das Haar in der Suppe der Rechtsprechung finden zu können. Ohne Sachverhalt liesse sich die rechtliche Würdigung und der darauf fussende Urteilsspruch nicht nachvollziehen. Gerichtsurteile liessen sich weder überprüfen noch Kritik unterziehen. Die Ableitung einer Rechtspraxis wäre unmöglich.



Nur die Spitzen schneiden oder «dörf’s es bitzli meh si?»


Wie wichtig eine Anonymisierung mit Augenmass ist, zeigt sich am nachstehenden Beispiel:

Soll man Betreibungsnummern in Gerichtsentscheiden anonymisieren? Die Betreibungsnummer ist im Zusammenhang mit der Nennung des Betreibungsamtes für Zugriffsberechtigte des entsprechenden Amtes geeignet die Verfahrensbeteiligten eindeutig zu identifizieren. Dritte hingegen können mit der Betreibungsnummer nichts anfangen. Wird nun in einem Rechtsöffnungsverfahren die entsprechende Betreibungsnummer sowie das Betreibungsamt genannt, kann zwar das zuständige Amt in dem anonymisierten Gerichtsentscheid nachvollziehen, wer die Parteien im Gerichtsverfahren waren. Dies ist insofern unproblematisch, als ein entsprechender Rechtsöffnungsentscheid ohnehin in vollständiger Ausfertigung an das zuständige Betreibungsamt übermittelt wird.


Wird eine Betreibungsnummer unter Nennung des Betreibungsamtes jedoch im Rahmen eines Scheidungsverfahrens zitiert, dürfte sich die Angelegenheit dagegen bereits anders verhalten. Sofern der Betreibungsvorgang nicht im direkten Zusammenhang mit dem Scheidungsverfahren steht – und wohl selbst dann – ist davon auszugehen, dass ein Scheidungsurteil dem Zugriffsberechtigten im Betreibungsamt Zugang zu mehr Informationen ermöglichen würde, als dieser alleine aus seiner amtlichen Tätigkeit wahrnehmen dürfte.


Weiter kann bereits der zur Beurteilung stehende Sachverhalt per se identifizierend sein, zumindest für Angehörige, Nachbarn oder Mitarbeitende. Bei einer Publikation im Internet darf sich aber das subjektive Begriffsverständnis der Anonymisierung auf den unbeteiligten Dritten beziehen. Befürchtet eine Partei, dass der nähere Bekanntenkreis im Internet allzu einfach das eigene Scheidungsurteil identifizieren könnte, wäre eine strengere Anonymisierung bereits vor Verfahrensabschluss bei der Verfahrensleitung zu beantragen.


Die Abwägung, wie ausführlich eine Anonymisierung vorgenommen werden soll, ist daher immer im Einzelfall vorzunehmen, Haarmenge und Haarlänge sind individuell. Es lassen sich zwar Grundregeln festlegen und Begriffe, welche immer oder nie anonymisiert werden, definieren.


Um dem Öffentlichkeitsprinzip Genüge zu tun, ist jedoch darauf zu achten, dass nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich anonymisiert wird, und zwar mit Platzhaltern, um die Lesbarkeit zu gewährleisten. Bürstenschnitt und Stirnfransen stehen eben nicht allen gleich gut.


Dies ist im Übrigen auch eines der Gründe, weshalb eine vollautomatische Anonymisierung von Gerichtsentscheiden ein Luftschloss bleiben wird. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden...

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